Montag, 11. November 2013

sneak peek [Christmas special]



»Ehrlich, das willst du anziehen?« Die Nase rümpfend, ging meine Mutter zur Kommode und holte ein paar Handtücher heraus. Das Nähzimmer, in dem ich vorübergehend wohnte, war klein, aber durch das große Fenster recht hell. Nur die ausklappbare Couch tat meinem Rücken nicht besonders gut.
»Wieso?« Unsicher blickte ich in den Spiegel und betrachtete das grüne Strickleid, das ich mir erst vor einem Tag gekauft hatte. Dazu trug ich weiße Leggins und kuschelige Ugg-Boots.
»Ich weiß auch nicht«, sagte sie und begann an dem Saum des Kleides zu zupfen. »Irgendwie trägt das auf.«
»Du meinst, ich seh fett aus?«
»Es macht dich eindeutig dicker. Nicht dick. Du bist ja nicht dick. Also, noch nicht.«
»Danke, Mama.« Ich griff nach dem Haargummi an meinem Handgelenk und band meine widerborstigen Locken zu einem Zopf zusammen.
»Ich kann dir ein schickes graues Kleid von mir leihen.«
Ich stieß einen Zischlaut aus, während ich versuchte eine Strähne zu bändigen, die sich immer wieder aus dem Zopf löste.
»Ich hatte es nur einmal an, damals an Gerdas 50. Geburtstag.«
»Und du meinst, ich sollte ein Kleid tragen, dass fast dreißig Jahre alt ist?«
»Ach, es wird doch alles wieder modern. Irgendwann. Außerdem schummelt der Schnitt locker fünf Pfund weg.«
»Nein, danke.«
»Probier es doch wenigstens an.«
»Ich habe keine Zeit, Koko kommt in zehn Minuten.«
»Das Anprobieren würde höchstens drei Minuten 
dauern.«
 
Augen rollend gab ich nach und fand mich fünf Minuten später in einem dunkelgrauen Wollkleid wieder, das vor dreißig Jahren bestimmt auch schon scheiße ausgesehen hatte.
»Passt wie angegossen, Lucy.«
Energisch schüttelte ich den Kopf. Das Kleid ging bis weit über die Knie. Es war sackartig geschnitten und sah unmöglich aus. Dazu diese schreckliche Blume am Kragen. »Ich ziehe das Grüne an«, sagte ich mit Nachdruck und bat meine Mutter den Reißverschluss am Rücken zu öffnen.
Es klingelte. »Ich mach auf!«, rief Nele von unten.
Meine Mutter zupfte an dem Reißverschluss herum und fluchte leise.
»Was ist los?«
»Er klemmt.«
Ich seufzte laut. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
Nach zwei Minuten ließ meine Mutter sich erschöpft aufs Bett fallen. »Nele! Kommst du bitte mal her?«
Aber auch Nele hatte keinen Erfolg. Egal wie sehr sie an dem Ding rüttelte. Dann ließ sie sich zu meiner Mutter aufs Bett fallen und starrte mich an. Und dann lachte sie lauthals.
»Das ist nicht witzig! Hol mir eine Schere!«
»Nein!« Meine Mutter sprang auf. »Du kannst das Kleid nicht kaputt machen. Ich hänge daran.«
»Und deswegen hast du es auch nur einmal angezogen, ja?«
»Ich habe es mir für eine besondere Gelegenheit aufgehoben. Ich möchte es an deiner Hochzeit tragen.«
Nele prustete.
»Mama, Koko wartet unten und in zwanzig Minuten verfällt unsere Platzreservierung im Le Petit, wenn du also keine bessere Idee hast, wie ich aus diesem Kleid komme, dann schneide ich es durch.«
»Behalte es doch an.«
»Spinnst du? Soll Koko in Ohnmacht fallen, wenn er mich so sieht?«
»Also so ein ähnliches Kleid trug Lady Cora in einer Folge von Downton Abbey.«
»Die Serie spielt in den zwanziger Jahren, oder?«
Nele nickte. »Naja, also die erste Folge beginnt an dem Tag, an dem die Titanic untergeht. Das war glaube ich 1912.«
»Super. Für die Jungfernfahrt der Titanic wäre ich also passend angezogen.«
»Ja, und das Beste daran wäre, das Kleid würde dann auf den Meeresgrund sinken.«
»Zu schade. Vielleicht sollte ich Koko bitten, mit mir eine Bootsfahrt zu unternehmen.«

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