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Leseprobe aus Humphrey, Ich und Kokolores:

1. Kapitel


»Du musst dich um Humphrey kümmern.« Die Stimme meiner Mutter klang weinerlich am Telefon. In meinem Hals bildete sich ein Kloß. So früh am Morgen konnte ich mit Gefühlsausbrüchen sämtlicher Art nicht umgehen.
»Wieso? Hast du auf einmal eine Katzenallergie?«
»Nein, ich muss operiert werden und dann in die Reha. Der Arzt hat gesagt, ich werde dort mindestens drei Wochen bleiben müssen.«
Ich sog hörbar die Luft ein. Meine Mutter war eine Woche zuvor auf der Kellertreppe ausgerutscht. Zuerst hatten sich nur ein paar blaue Flecken gebildet, aber vor zwei Tagen hatte sie über starke Schmerzen im Hüftbereich geklagt. Ich hatte stundenlang auf sie einreden müssen, bis sie endlich zu einem Arzt ging. Meine Mutter vertritt die Meinung, dass es für jedes Gebrechen ein Kraut gibt, und Ärzte und Krankenhäuser überbewertet werden. Nachdem ihre Salbei-Distel-was-auch-immer-Kur keinen Erfolg gezeigt hatte, rief sie mich an und bat mich darum, im Internet nach einem Homopathen zu suchen, womit sie natürlich einen Homöopathen meinte.
Ich wand mich aus der Affäre, in dem ich ihr erzählte, dass Homöopathen wegen Elektrosmog das Internet nicht nutzten. Das fand sie schlüssig und auch vernünftig, und so rief sie die Auskunft an. Abends rief sie mich dann allerdings zurück, um mir mitzuteilen, dass sich ihr Urin pink gefärbt hätte, von der Kräutertinktur, die ihr empfohlen worden war.
»Pink? So richtig Barbie-pink?«
»Ja, mit ein bisschen Glitzer sogar.«
»Was hast du bloß getrunken?«
»Ich habe mir den Tee nach Anleitung dieses Kräuterdoktors gemacht. Aber es sah so fad aus und roch sehr streng, und da dachte ich, ich tue etwas Glitzerstaub dazu. Das Auge isst ja schließlich mit.«
»Geh endlich zum Arzt und hör auf dich von innen wie ein Weihnachtsbaum zu schmücken, Mama.«
Schließlich gab sie nach.
Nun war sie also tatsächlich zu einem richtigen Arzt gegangen. Ich schmunzelte und lief mit dem schnurlosen Telefon in die Küche, um mir ein Glas Wein zu gönnen. Diese stundenlangen Telefonate mit meiner Mutter hatten mich erschöpft. Ein Glas Wein konnte da Wunder wirken.
»Kannst du nun also für ein paar Wochen das Haus hüten und auf Humphrey aufpassen?«
»Kann ich Humphrey nicht zu mir holen?«
»Nein, Katzen sind sehr ortsgebunden. Er reagiert auf einen Tapetenwechsel so gestresst. Das eine Mal habe ich ihn Weihnachten mit zu meiner Freundin in den Harz genommen. Er hat in der ersten Nacht vier Mäuse gefangen und sie, während ich schlief, auf die Bettdecke gelegt. Tote Mäuse lagen an meinem Fußende!«
Ich bemühte mich gar nicht erst, mein Lachen zu unterdrücken.
»Das ist ein völlig normales Verhalten für einen Kater. Katzen jagen nun einmal Mäuse. Und durch das Anschleppen zeigen sie den Menschen ihre Zuneigung.«
»Na, die kann ja nicht sehr groß sein, wenn er mir tote Nagetiere ins Bett legt. Nein, nein, er hat hier zu Hause noch nie eine Maus gefangen. Das lag bloß am Stress.«
»Wenn du es sagst.« Schmunzelnd nahm ich einen Schluck Wein.
»Außerdem gab es hier in der Nähe zwei Einbrüche im letzten Jahr. Und dann ist da noch-«
»Ja?«
»Nele.«
Ich verdrehte die Augen. Bitte lass es eine Schildkröte sein und keine Katze. Oder besser noch, einen Wellensittich. Dann könnte ich wenigstens mein eigenes Sylvester-und-Tweety-Programm veranstalten, falls das Fernsehprogramm nichts hergab.
»Ist Nele eine weitere Katze?«
»Nein.«
Ich wartete auf mehr Information, doch es kam nichts.
»Ein Wellensittich?«
»Nein.«
Ich seufzte und trank den Wein in einem Zug aus.
»Du hast dir doch nicht etwa wieder einen Fantasiefreund zugelegt, Mutter?«
»Sie ist meine Pflegetochter.«
Für einen Moment war ich sprachlos. Nachdem ich mein Weinglas aufgefüllt hatte, ließ ich mich auf die Küchenbank fallen.
»Pflegetochter? Wie?«
»Sie ist dreizehn und wohnt seit einem halben Jahr hier. Ihre Mutter ist Alkoholikerin und lebt nun in einer Einrichtung und ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Ich habe doch schon seit Jahren davon gesprochen, ein Pflegekind bei mir aufzunehmen und da-«
»Und wann wolltest du mir das sagen?«, unterbrach ich sie.
»Nun, ich dachte, jetzt wäre der passende Zeitpunkt.«



Ich vermied es, so oft es ging, in meine Heimatstadt zu fahren. In den zehn Jahren, die ich inzwischen in Kiel wohnte, war ich gerade einmal fünf Mal dort gewesen. Und das auch nur für wenige Stunden an Heiligabend.
Durch meine Arbeit als Reiseleiterin war ich ohnehin so eingespannt gewesen, dass ich kaum Freizeit besessen hatte. Doch das war nun anders. Seit drei Monaten war ich arbeitslos, und obwohl der Plan, sich mit einem Catering-Service selbstständig zu machen, immer konkretere Formen annahm, hatte ich keine adäquate Ausrede, meiner Mutter nicht zu helfen.
So fuhr ich also in die Kleinstadthölle zurück, der ich meine Sucht nach Schokolade, viele verkaterte Wochenenden und ein gebrochenes Herz zu verdanken hatte.
Die Schokoladensucht hatte in der achten Klasse begonnen, als Jasmin Graf in unsere Klasse gekommen war und mir den Spitznamen Pudelschlampe eingebracht hatte. Als wenn ich durch meine widerborstigen Locken nicht schon genug bestraft gewesen wäre.
Die verkaterten Wochenenden resultierten Jahre später daraus, als der Spitzname bei meiner Ausbildungsstelle wieder auftauchte. So ist das in einer Kleinstadt. Alles spricht sich schnell herum und bleibt für ewig im Gedächtnis.
Das gebrochene Herz verdankte ich Tim, meinem damaligen Verlobten, der mich drei Wochen vor unserer Hochzeit mit einer Frau aus seiner Clique betrog, die so maskulin wirkte, dass ich sie bis dato für einen Mann gehalten hatte. Einen Tag nachdem ich beide in flagranti erwischt hatte, floh ich zu meiner Cousine Sophie nach Kiel, suchte mir einen neuen Job und eine eigene Wohnung, und verspürte nicht das geringste Interesse daran, nach Wedel zurückzukehren.





2. Kapitel



Mit einem flauen Gefühl im Magen, dem Impuls auf der Stelle umzukehren oder meinen Kopf in den Backofen zu stecken, wuchtete ich die Reisetasche aus dem Kofferraum und versuchte mir einzureden, dass es bestimmt nett werden würde. Ich musste das Haus ja nicht verlassen. Wenn ich die ganze Zeit im Haus bleiben würde, könnte ich es vermeiden, ehemaligen Klassenkameraden zu begegnen. Oder Tim. Ich konnte Nele in den Supermarkt schicken. Oder Pizza ins Haus kommen lassen. Verhungern würden wir also nicht.
»Du bist dünn geworden. Isst du nicht anständig?« Das war die typische Begrüßung meiner Mutter. Die, oder: »Du hast zugenommen. Allmählich musst du aufpassen.«
Ich lächelte, stellte meine Reisetasche im Flur ab und folgte meiner Mutter ins Wohnzimmer. Es roch nach der üblichen Mixtur aus Desinfektionsmittel und Mottenkugeln. Kein Wunder, dass Humphrey keine Mäuse ins Haus schleppte. Er war von dem Geruch bestimmt so benebelt, dass er eine Maus nicht von einem Wollknäuel unterscheiden konnte. Letztere lagen als Stolperfallen übrigens überall im Haus herum. Humphrey begrüßte mich mit einem Tango um meine Beine und lief dann einem Wollknäuel hinterher, das ich mit dem Fuß angestupst hatte.
»Ich habe dir hier alles Wichtige aufgeschrieben«, sagte meine Mutter ohne Umschweife und reichte mir einen Notizblock. »Telefonnummern der Lehrer, Klassenarbeiten, wann der Rasen gemäht werden muss und so weiter.«
»Sind die Schmerzen besser geworden?« Irritiert bemerkte ich, dass meine Mutter sich völlig normal bewegte.
»Ach, die Schmerzmittel wirken ganz gut«, erwiderte sie lächelnd.
»Soll ich dich morgen früh ins Krankenhaus fahren?« Ich setzte mich in den Ledersessel, der mir schon während meiner Jugendzeit viele trostvolle Stunde bereitet hatte. Ein idealer Platz, um zu lesen. Oder um Schokolade zu essen. Oder beides.
»Nein, ich nehme ein Taxi. Du musst ja bereits um acht Uhr in der Schule sein.«
Stirnrunzelnd starrte ich sie an. »Wieso das?«
Meine Mutter strich sich durchs sorgfältig toupierte Haar, das mit zahlreichen Klammern befestigt war. In ihrem zitronengelben Kostüm sah sie wie aus dem Ei gepellt aus, und ich begann, mich in meinem Shirt und der alten Jeans wie das Stiefkind zu fühlen.
»Neles Klasse macht einen Ausflug ins Theater. Der Klassenlehrer hat zwei Elternteile gesucht, die mitfahren, da auf dem letzten Klassenausflug einiges schief ging. Ich habe mich bereit erklärt mitzugehen, aber nun kam ja der Unfall dazwischen.«
»Und stattdessen soll ich nun mit? Niemals.« Zur Untermalung meiner Entrüstung verschränkte ich die Arme vor der Brust.
»Du musst. Die Schule, oder das Schulamt besser gesagt, erlaubt den Ausflug nicht, wenn nicht insgesamt drei Erwachsene mitgehen.«
»Weshalb? Ist das nicht ein wenig übertrieben? Das ist die achte Klasse. Es sind keine Kleinkinder. Bei uns kam damals immer nur ein Lehrer mit zu solchen Ausflügen.«
»Ja, aber ihr habt damals auch keiner älteren Dame den Gehstock mit Senf eingeschmiert, woraufhin diese ausrutschte und auf einen Chihuahua fiel, der sich dann in ihr Hinterteil verbiss. Beim Versuch den Hund von dem Hintern der Dame zu entfernen, wurden drei Museumsmitarbeiter verletzt, einer musste sogar eine Tetanusspritze bekommen.«
Ich lachte schallend, was meine Mutter mit einem Kopfschütteln kommentierte.
»Das ist nicht komisch.«
»Doch, genau das ist es!«
»Wie dem auch sei. Um dieses Mal für etwas mehr Benehmen zu sorgen, wirst du mich vertreten.«
»Mama, das kannst du nicht verlangen, ich meine...ich...ich kann mit Kindern nicht umgehen, das weißt du!«
»Sie sind dreizehn, sie müssen nicht gewickelt und gefüttert werden, Lucy!«
»Teenager sind vermutlich noch anstrengender als Kinder. Ich komme mit denen nicht zurecht.«
»Unsinn, du warst doch selbst mal in dem Alter.«
»Ja, und auch damals kam ich mit ihnen nicht zurecht. Du erinnerst dich noch an das Schuh-Fiasko, oder?«
Betreten blickte meine Mutter zu Boden.


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